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Gerhart Baum
„Teile des Bürgertums verachten die Demokratie“
Von Helene Bubrowski und Friederike Haupt
-Aktualisiert am 27.06.2023-06:20
Der Liberale Gerhart Baum war mal Innenminister. Er hat schon viele Krisen erlebt – aber noch nie, dass die Welt so aus den Fugen gerät wie heute. Den Umgang seiner Partei mit diesen Krisen findet er nicht immer gelungen.
8 Min.
Herr Baum, Sie sind neunzig. Sie haben einen Weltkrieg erlebt, drei Währungen, unzählige Krisen. Haben Sie den Eindruck, wir leben heute in besonders unruhigen Zeiten? Ich bin ein Flüchtlingskind, ein Kriegswaise. Ich habe den Krieg in den Knochen. Aber wenn ich auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicke, habe ich noch nie eine solche Ballung von Veränderungen und Krisen erlebt wie jetzt, nicht nur durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Die Welt ist aus den Fugen.
Sie haben kürzlich in einem Vortrag gesagt, wir seien Zeugen einer Erosion demokratischer Gesellschaften. Was meinten Sie?
China, Russland und andere Staaten wollen eine Weltordnung, die demokratische Strukturen zugunsten von autoritären Strukturen zurückdrängt. In Europa ist in einigen Ländern der Rechtsstaat in Gefahr. Und auch in unserem Land wird die Demokratie angegriffen. Das zeigt sich derzeit in der hohen Zustimmung für die AfD, ist aber eine längere Entwicklung: Teile des Bürgertums – zwar Minderheiten, aber dennoch – verachten die Demokratie und ihre Spielregeln. Das zeigt sich an immer neuen Themen. Kürzlich war es noch Covid, jetzt sind es die Flüchtlinge. Hinzu kommt eine romantische Friedenssehnsucht, die nicht bereit ist, Freiheit wehrhaft zu verteidigen. Mitunter schwächeln die Deutschen im Umgang mit der Demokratie. Sie hatten ja nie eine gelungene Revolution, nimmt man 1989 aus. Das Scheitern von 1848 war eine Katastrophe. Wir sind in der Demokratie erst 1945 angekommen.
Warum scheinen die Deutschen gerade jetzt unzufriedener mit der Demokratie als in den Jahrzehnten zuvor? Es gibt Brandbeschleuniger. Viele Menschen sind heute von Ängsten getrieben, von Orientierungslosigkeit. Die Unsicherheit, die mit den Krisen zusammenhängt, bringt sie dazu, der Demokratie die Regelungsfähigkeit abzusprechen. Sie flüchten sich in eine eigene Öffentlichkeit. Die bundesweite Verständigungsgemeinschaft ist in Gefahr. Es entwickeln sich lauter kleine Bereiche, in denen die Menschen sich gegenseitig bestätigen und nur noch teilweise wahrnehmen, was uns in dieser Republik zusammenhält.
Glauben Sie, dass die Abkehr aus Protest geschieht – oder aus Überzeugung?
Die Frage habe ich mir schon bei Pegida gestellt. Ich kann mich nicht zufriedengeben mit der Feststellung, dass das vielfach nur Protest sei. Man wird doch verlangen können, dass die Menschen sich genau ansehen, wie sie ihren Protest zum Ausdruck bringen. Ich mache das nicht mit, dass wir Rechtsextremismus in Deutschland zur Normalität erklären. Das mag in Frankreich oder in anderen Ländern so sein. Im Schoa-Deutschland darf es nicht so sein.
Welchen Anteil haben Politiker an dem Vertrauensverlust?
Natürlich trägt die Art, wie Politiker miteinander umgehen, zu Vertrauen oder dessen Verlust bei. Die Art, wie die Ampel regiert, ist nicht förderlich. Sie wird auch am Umgang gemessen, nicht allein am Inhalt. In den Kabinetten, denen ich angehört habe, wäre es undenkbar gewesen, dass man dem Koalitionspartner ständig öffentliche Forderungen stellt und unausgereifte Projekte auf den Markt bringt. Die Ampel darf nicht noch zusätzlich Unsicherheit verbreiten – zumal die Union aus der Opposition heraus das Feuer noch weiter anheizt.
Finden Sie, dass heute anders gestritten wird als früher?
Auch früher flogen die Fetzen, aber nicht in der Regierung, sondern zwischen Regierung und Opposition. Ich muss daran denken, was der Feldherr Helmut Schmidt mit uns gemacht hätte, wenn wir so gezankt hätten wie die Ampel.
Was denn?
Er hätte gesagt: Setzt euch gefälligst mal an einen Tisch, und zwar ohne Papier. Und dann redet ihr, bis ihr euch einig seid. Oder ihr gebt das Projekt auf.
Ist Scholz dafür zu schwach?
Nein. Er hat einen anderen Führungsstil – drei Koalitionspartner sind auch schwieriger als zwei. Jeder hat ein ausgeprägtes Profil. Darin liegt ja auch eine Chance. Aber jetzt ist Vertrauensbildung dringend notwendig. Die Lage ist schwierig genug.
Ihre Partei, die FDP, ist auch nicht unbeteiligt am Streit in der Regierung. Sind Sie einverstanden damit, wie der Vorsitzende Christian Lindner die Partei führt?
Seine Politik ist durch Rationalität geprägt. Er ist, wie er ist, und muss authentisch bleiben. Neben ihm kommen jetzt auch andere Personen ins Bild. Insgesamt vermittelt die FDP mitunter den Eindruck, sie lehne immer nur etwas ab. Manches lehnt sie zu Recht ab, aber manchmal verkämpft sie sich auch an falscher Stelle. Sie will doch etwas verändern, und das tut sie ja auch. Sie muss sichtbar machen, was sie will, und nicht, was sie nicht will, und das den Menschen vermitteln.
Wie?
Genscher hat mir vor Auftritten immer gesagt: Sie gehen jetzt ins Fernsehen. Denken Sie an die Oma auf dem Sofa. Sie müssen sie auch in ihren Gefühlen erreichen, mit Wärme. Sie muss wirklich verstehen, was Sie sagen.
Die Leute verstehen doch, was die FDP sagt. Sie sind nur oft nicht einverstanden.
Ja, aber sie würden mehr verstehen, wenn die FDP wieder mehr Mut zu einem offenen Diskurs hätte. Das würde vieles erklären. Viele in der FDP aber meinen, das schadet.
Die Liberalen diskutieren doch fortwährend. Bis vor wenigen Tagen stritten sie zum Beispiel über das Heizungstauschgesetz. Da ging es auch in der Bundestagsfraktion hoch her.
Ich meine Diskussionen über die Rolle des Liberalismus in einer sich dynamisch verändernden Welt.
Ist nicht ein Problem des Liberalismus heute, dass sich jeder etwas anderes darunter vorstellt? Die FDP schreibt sich Freiheit auf die Fahnen, aber was Sie damit meinen, ist etwas vollkommen anderes als das, was Wolfgang Kubicki darunter versteht. Kubicki ist ein Sonderfall. Ich habe ihn schon vor vierzig Jahren mitunter nicht gewählt – und er mich wohl auch nicht. Liberalismus aber ist nicht misszuverstehen. Er ist Erbe der Freiheitsrevolutionen des 18. Jahrhunderts und der Aufklärung. Er steht in der Tradition der Revolution von 1848. Er ist Teil einer demokratischen und sozialen Freiheitsbewegung – und er hatte immer verschiedene Strömungen. Das sozialliberale Element muss allerdings stärker werden. Das meint der Verfassungsrechtler Christoph Möllers, wenn er feststellt, dass die FDP sich im Moment schwertut, allgemein liberal zu werden. Es gibt Kräfte in der FDP, die das ändern wollen.
Sie waren oft frustriert von Ihrer Partei. So waren Sie etwa für die Impfpflicht – kam nicht – oder für das Tempolimit – kam bisher ebenfalls nicht. Wie gelingt es Ihnen, Ihrer Partei trotz aller Enttäuschungen die Treue zu halten seit mehr als siebzig Jahren?
Gute Frage. Man könnte sie noch auf die Spitze treiben mit der Frage: Welcher Partei würden Sie heute beitreten?
Und?
Der FDP. Trotz aller Enttäuschungen. Weil ich eine liberale Partei in unserem Land für unverzichtbar halte, auch wenn sie Fehler macht. Aber Freiheit ist auch von der FDP strikt mit Verantwortung zu verbinden: Verantwortung für die Schwachen, Verantwortung für die ethische Bändigung des Marktes, für den Schutz gegen Datenmissbrauch und für den Schutz des Planeten gegen Ausbeutung und Zerstörung, um nur einiges zu nennen. Wo die Grünen zu viel vom Staat erwarten, da erwarten die Liberalen mitunter zu wenig.
Die Grünen kamen für Sie nie infrage?
Nein. Auch wenn mir manches bei ihnen sympathisch ist. Sie haben andere Ziele, die in Konkurrenz treten mit der Freiheit. Deshalb bin ich nachdrücklich der Meinung, dass die FDP nachdenken muss, welche Wähler sie ansprechen will. Es besteht eine Sehnsucht danach, eine liberale Partei zu wählen. Die FDP müsste liberal gesinnte Menschen ansprechen, die sich heimatlos fühlen, gerade jetzt, wo die Grünen schwächeln.
Wen will die FDP denn gerade ansprechen? Da ist sie nicht eindeutig. Wenn der Generalsekretär Frau Merkel für ihre Flüchtlingspolitik im Jahre 2015 heute noch kritisiert, dann blinkt er nach rechts. Solche Signale sehe ich auch in der Asylpolitik.
Ist es nicht der Versuch, mit unterschiedlichen Köpfen unterschiedliche Wählerschichten anzusprechen? Es gibt Themen, bei denen man nicht mit verteilten Rollen spielen kann.
Gab es einen Moment, an dem Sie ernsthaft über einen Parteiaustritt nachgedacht haben? Ja. 1982 nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition. Da ist die FDP in großen Teilen eine andere Partei geworden. Sie vertrat keinen ganzheitlichen Liberalismus mehr, sondern einen Wirtschaftsliberalismus. Unsere Gegner in der Partei haben unsere Themen wie Bürgerrechte, Umweltschutz et cetera weggedrückt. Ich habe überlegt, aus der Politik auszuscheiden. In eine andere Partei wollte ich nicht.
Warum sind Sie dabeigeblieben? Da hat ein gewisser Trotz mitgespielt. Ich wollte den anderen nicht die Partei überlassen. Ich war ja nicht alleine, zum Beispiel waren Hildegard Hamm-Brücher noch da und Burkhard Hirsch und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Aber wir haben gemerkt, dass wir keine entscheidende Rolle mehr spielten. Ich war dann viele Jahre lang Menschenrechtsverteidiger an vielen Orten der Welt.
Gibt es in Ihrem politischen Leben eine Entscheidung, die Sie bereuen? Beschwert hat mich die Zustimmung zum Kontaktsperregesetz . . .. . . das Verbot für RAF-Terroristen, mit ihren Anwälten zu kommunzieren.
Mir blieb damals als Mitglied der Regierung gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Als ich Minister wurde, habe ich zahlreiche Freiheitseinschränkungen aufgehoben.
Und im Privaten? Sind Sie da im Reinen mit sich?
Ich habe zugunsten meiner Amtspflichten meine Familie vernachlässigt, meine Kinder. Ich habe mich unangenehmen Erziehungsaufgaben entzogen und auch Freundschaften nicht gepflegt. Die Politik wurde manchmal zur Droge. Ich habe ihr unendlich viel Zeit geopfert.
Viele junge Leute wollen heute mehr Zeit für die Familie haben. Der frühere Innenminister Thomas de Maizière dagegen mahnte neulich an, mehr zu arbeiten, mehr ans Gemeinwohl zu denken. Ist da was dran? Ja. Ich teile diese Meinung voll und ganz. Vorschläge, dafür eine gesetzliche Pflicht einzuführen, teile ich nicht. Es läuft gerade ein neuer Dokumentarfilm über die Kölner Widerstandsgruppe „Edelweißpiraten“. Kurz vor Kriegsende wurden diese jungen Menschen öffentlich aufgehängt. Das ist ein Appell an junge Leute, für die Demokratie zu kämpfen. Sie tun es ja heute nicht bei Gefahr für das eigene Leben. Sie tun es, damit das Grundgesetz und seine Werte mit Leben erfüllt werden.
Junge Menschen stellen heute hohe Ansprüche an ihre Arbeitgeber: flexible Arbeitszeiten, Homeoffice, Viertagewoche. Geht das zu weit? Ja. Das eigene Wohlbefinden überbordet. Ich bin geprägt durch mein Leben. Wir mussten viel härter sein mit uns selbst. Wir haben geklaut, um unseren Hunger zu stillen. Meine Mutter hat sich Decken beschafft, ein Loch hineingeschnitten, und dann hatten wir einen Umhang – der sich bei Regen allerdings vollsog. Wir haben auf der Straße amerikanische Zigarettenkippen aufgesammelt. Alles wirkt bis heute nach. Wenn ich heute in einer Schlange stehe, am Flughafen zum Beispiel, habe ich immer den Drang, mich nach vorne zu arbeiten. Ich weiß ja, ich habe meinen Platz im Flugzeug. Aber nein, ich schiebe nach vorne. Wenn man damals bei der Bäckerei nicht rechtzeitig nach vorne kam, war das Brot aus.
Heute ist die Not zum Glück nicht mehr so groß. Ja, man kann die frühere Situation nicht übertragen. Die jungen Leute müssen nicht klauen, sie können zu McDonald’s gehen. Aber auch heute gilt, dass der Sozialstaat nur lebt, wenn wir Mitmenschlichkeit praktizieren, wie es Linda Rennings tut, die mit mir soeben in Köln als Alternative Ehrenbürgerin geehrt wurde. Sie umsorgt als Streetworkerin obdachlose Frauen.
Sprechen wir über die Aktivisten der Letzten Generation. Verkehrsminister Wissing hat sich mit ihnen getroffen, Justizminister Buschmann sagt, er hätte das nicht getan. Was hätten Sie als Minister gemacht? Ich wäre in eine Kontroverse mit ihnen eingetreten. Auch darüber, warum sie so sichtbar ihrer eigenen Sache schaden. Die Aktivisten selbst sorgen dafür, dass nicht über ihre Ziele diskutiert wird, sondern über ihr Verhalten.
Die Letzte Generation sagt, sie will so Druck aufbauen, um besseren Klimaschutz zu erzwingen. Diese Argumentation stört mich sehr. Es wird nämlich die Entscheidungskraft der parlamentarischen Demokratie infrage gestellt. Das Parlament muss in einer schwierigen Abwägung darüber entscheiden, was machbar ist. Die Aktivisten müssen sich dem öffentlichen Diskurs stellen, statt ex cathedra zu verkünden, was einzig richtig sei. Das ist demokratiefern. Schon gar nicht wird, wie sie behaupten, das Grundgesetz verletzt. Ich habe etwas dagegen, dass Ziele verabsolutiert werden.
Sie haben sich 1979 mit dem RAF-Terroristen Horst Mahler getroffen. Würden Sie sich auch mit einem Rechtsextremisten wie Björn Höcke treffen? Ich habe zweimal mit Gauland diskutiert. Man muss abwägen, ob man mit den Gegenargumenten etwas erreicht oder der anderen Seite nur ein Forum bietet.
Im Gespräch mit Mahler haben Sie damals zu mehr Gelassenheit gemahnt. Als Bundesinnenminister im Angesicht des Terrors. Das wäre heute undenkbar. Mahler hatte sich von der RAF abgewandt, das ist der Unterschied zu Höcke. Wir beide haben uns an die Sympathisanten, nicht an die Täter gewandt. Meine Botschaft war: Die Gesellschaft ist reformfähig – nutzt die Mittel, die sie dazu bereithält! Verzichtet darauf, das Recht zu brechen!
Die Formatierung der Fragen ist teils etwas komisch, aber so sah das für mich im Original aus.
Alter Mann sagt, dass alle bitte härter arbeiten müssen, weil er es nach dem Krieg auch schwer hatte.
Sagt er doch garnicht. Er sagt das wird wie früher gefordert und Arbeitgeber werden sich anpassen.
Vor allem kritisiert er den Rückzug in eigene Echokammern und auch die fehlende Einigkeit in der Politik.